Kolonialismus-Hochburg Dortmund!?
Was hat Dortmund mit dem Kolonialismus zu tun? Auf den ersten Blick: Nichts! Detlev Brum wagt einen zweiten und dritten Blick und kommt zu anderen Ergebnissen. Er ist sich sicher: Neben Berlin oder Hamburg war auch der Ruhrpott eine deutsche Kolonialmetropole. Denn schon vor Beginn der deutschen Kolonialpolitik war das Ruhrgebiet wirtschaftlich in das „koloniale Weltsystem“ eingebunden. Der Kolonialismus: eine wichtige Grundlage der Globalisierung, die im Ruhrpott schon vor rund 130 Jahren begann. Brum: „Ohne Rohstoffe aus Absatzmärkten in Übersee wäre das Ruhrgebiet nicht zu einem frühen Gewinner der Globalisierung geworden.“ Ruhrpott Global? Eine lange Tradition und doch aktueller den je…
Eisenerze für die Dortmunder Eisen- und Stahlproduktion aus Afrika und Lateinamerika, Asbest für die Wärmedämmung aus Südafrika, Futtermittel aus Asien für die industrielle Schweinemast und Kokosgarn für Treibriemen aus Asien: Die Liste der Importwaren aus später sogenannten Dritte-Welt-Ländern war schon Ende des 19. Jahrhunderts lang. Ausgegraben hat sie Detlev Brum, in jahrelanger Recherche in kommunalen, staatlichen, kirchlichen und Wirtschaftsarchiven, aber auch durch die Auswertung der kolonialwissenschaftlichen Literatur und Dortmunder Tageszeitungen. Brum gräbt – im übertragenen Sinne – da, wo er steht. Seit 1979 wohnt er in Dortmund und fand den Zusammenhang von „local history“ und „global history“ schon immer spannend. „Glokalisierung, also die Untersuchung der lokalen Auswirkungen und Erscheinungsformen der Globalisierung, das reizt mich“, erzählt der 52-Jährige. Deshalb recherchiert er in seiner Freizeit Themen, die zunächst gar keine zu sein scheinen. Themen, die Zusammenhänge zwischen Nah und Fern, Heimat und Kolonie, zwischen dem Ruhrpott und dem Globalen aufzeigen. Die verblüffenden Ergebnisse veröffentlicht er in einem Internet-Blog.
Auf den Spuren des Kolonialismus: Auf seiner Homepage www.dortmund-postkolonial.de veröffentlicht Detlev Brum seine Recherche-Ergebnisse. Screenshot: S. Mono
Auf den Spuren des Kolonialismus: Auf seiner Homepage
http://www.dortmund-postkolonial.de veröffentlicht Detlev Brum seine Recherche-Ergebnisse.
Screenshot: S. Mono
„Damit Dortmunder Schweine fett wurden, mussten Inder hungern“, formuliert Brum zugespitzt. Für die industrielle Schweinemast in Dortmund wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Futtermittel aus Russland oder Argentinien oder Indien importiert. Die Folge: Neue Hungerkatastrophen in der Ferne. „Die Geburt der Dritten Welt“, so Detlev Brum bildhaft, „begünstigte die Geburt des Wohlstands in Dortmund und einige Industrielle konnten sich an den Weltreichtümern bereichern.“
Um solche Zusammenhänge auszugraben, muss Brum in Dortmund tief buddeln. Straßennamen, Gebäude – nichts deutet heute darauf hin, dass in Dortmund einst die einflussreichsten Firmen und Amtsinhaber der Stadt nach Gewinnmöglichkeiten in Afrika, Asien und Lateinamerika strebten und den deutschen Kolonialismus vorantrieben. Selbst wer heute mit wachem Blick durch Dortmund schlendert, der wird nicht auf Spuren des Kolonialismus stoßen – es sei denn, er weiß, dass die heutige Nettelbeckstraße im Hafengebiet nach einem Kolonialpropagandisten benannt wurde, der als Kapitän von Sklavenschiffen am Menschenhandel beteiligt war. Oder dass die Walderseestraße in Körne immer noch an den Oberbefehlshaber des ersten großen deutschen Kolonialkriegs in China erinnert. Immerhin: Im Zuge der Entnazifizierung wurden in Dortmund fast alle Erinnerungsorte an die deutschen „Kolonialverbrecher“ umbenannt.
Wenn Detlev Brum heute durch Dortmunds Straßen zieht, dann weiß er mittlerweile zu fast jeder Ecke Geschichten zu erzählen, die sehr wohl mit dieser Vergangenheit zu tun haben. Hier stand einst die Zentrale der „Einkaufsgenossenschaft Dortmunder Kolonialwarenhändler“ (abgekürzt E.D.K., später EDEKA), dort war die von Kolonialsoldaten geführte Gaststätte „Zum Afrikaner“ und oben am Hafen, da wurden alleine im Jahr 1910 rund 12.000 Tonnen Eisenbahnmaterial in die deutschen Kolonien verschifft…
„Dortmund war eine frühe Hochburg der deutschen Kolonialbewegung“, bewertet Brum. Maschinenfabrik Deutschland, Phoenix, Union oder Deutschlands größter Holzimporteur Brügmann – es sind nur einige der zahlreichen namhaften Unternehmen Dortmunds, die in den deutschen und anderen europäischen Kolonien tätig wurden. „Auf der Suche nach den strategischen Rohstoffen sicherten sich Dortmunder Unternehmen sogar schon vor dem förmlichen Beginn des deutschen Kolonialismus 1884 den Zugang zu Erzabbauminen im späteren Deutsch-Südwestafrika und heutigem Namibia“, so Brum. Ob die Hafenanlagen und die Schantung-Eisenbahn in Kiautschou (China), die Otavibahn in „Deutsch-Südwestafrika“ oder die Eisenbahnprojekte in Deutsch-Ostafrika (heute Tansania): Laut Brums Recherchen gab es wohl kaum ein koloniales Großprojekt, von dem die Dortmunder Eisen- und Stahlindustrie nicht profitierte.
„Nicht nur die Unternehmen und die Dortmunder Handelskammer engagierten sich ab 1882 in Kolonialvereinen“, weiß Brum. In der Dortmunder Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft engagierten sich auch Dortmunder Bürgermeister und hauptamtliche Mitglieder des Magistrats, Bergräte des Oberbergamtes, Schuldirektoren und leitende Beamte. „Die organisierte Kolonialbewegung in Dortmund war ein „Who is who“ der gesellschaftlichen Establishments.“ Mit Erfolg: Das Ruhrgebiet wuchs und wuchs.
Der Dortmunder Hafen - allein im Jahre 1910 wurden von hier aus rund 12.000 Tonnen Eisenbahnmaterial in die deutschen Kolonien verschifft. Foto: pixelio.
Der Dortmunder Hafen – allein im Jahre 1910 wurden von hier aus rund
12.000 Tonnen Eisenbahnmaterial in die deutschen Kolonien verschifft. Foto: pixelio.
Großindustrie, Bevölkerungszuwachs, Arbeiterwesen – haben wir all das, was für viele von uns das Ruhrgebiet ausmacht und was wir liebgewonnen haben, allein der Ausbeutung anderer Länder zu verdanken? Diese Aussage wäre wohl viel zu überspitzt. Und doch: Spurlos – und kritiklos – ist die Kolonialisierung sicherlich nicht am Ruhrpott vorbeigezogen!
Schon während der Kolonialzeit gab es laut Brums Recherchen Protest gegen die Weltpolitik. „Vor allem die Sozialdemokraten gingen kritisch gegen die Kolonialismus-Propaganda vor und fanden in der Dortmunder Bevölkerung Anklang.“
Weniger kritisch schienen die Bürger aber dagegen bei sozio-kulturellen Themen gewesen zu sein, Stichwort: Völkerschauen. Vor allem wenn Detlev Brum durch den Fredenbaum im Dortmunder Norden schlendert, muss er daran denken. „Hier gab es oft Völkerschauen, bestimmt zehn Mal“, weiß der Lokalhistoriker. In dem Park, in dem Dortmunder heute auf der Wiese oder an dem kleinen See entspannen, stillten sie zwischen 1879 und 1914 ihr Sensationsbedürfnis bei sogenannten „Repräsentanten wilder Völkerschaften“. „Volksgruppen aus Asien und Afrika simulierten hier hinter einer Absperrung für ein paar Tage ihren angeblichen Alltag und Dortmunder durften sie dabei beobachten und gegen Entgelt fotografieren“, so Brum, für den Völkerschauen genau so viel mit Afrika zu tun haben, wie heutzutage der jährliche „Mittelaltermarkt“ im Fredenbaum mit dem Mittelalter. „Es ging immer um Projektionen und Phantasien, aber anders als beim „Mittelalterlich Spektakulum“ wurden häufig bewusst rassistische Klischees bedient, die durch den Kolonialismus erst aufgebaut wurden.“ Klischees von Schwarzen, die als scheinbar barbarisch, primitiv, unzivilisiert zur Schau gestellt wurden. Bis heute, da ist sich Detlev Brum sicher, sind die Fremdenbilder und kulturellen Hierarchien in den Köpfen vieler Deutscher von den globalen und kolonialen Interaktionen dieser Epoche geprägt.
Auch wenn sich glücklicherweise vieles geändert hat in den letzten 100 Jahren und Detlev Brums Blog nicht 1:1 als mahnender Zeigefinger verstanden werden kann oder soll; ein Zusammenhang zwischen dem Kolonialismus damals und der Globalisierung heute besteht weiterhin – auch hier, vor unserer Haustür, mitten im Ruhrgebiet. Der Ruhrpott ist weder damals noch heute unbeteiligt an global- und entwicklungspolitischen Themen. Und genau so wenig sollten wir Ruhrpöttler der Weltpolitik unbeteiligt gegenüber stehen. „Weltpolitik – wat is dat denn?“ Dat is Wirtschaft, Kultur, innere Werte und äußere Einflüsse. Weltpolitik betrifft die Bude an der Ecke genau so wie die Stahlwerke in den Industriegebieten unserer Ruhrpott-Städte. Sie hat unsere Region geprägt und tut es auch weiterhin. Es gibt einen „Ruhrpott Global“, und zwar schon länger als uns alle. Hinzusehen und verantwortungsbewusst zu handeln, das ist wichtig – im Großen genau so wie im Kleinen